Charisma

 

 

Rezension zur Uraufführung des Ballett Charisma von Walter Baco und dem Carousel Theater im Lehartheater in Bad Ischl am 20.9.2006

Priv. Doz. Dr. Alexander Ogrodnik, Erding

Mit dem plakativen, aber doch äußerst schillernden Titel: „Charisma“ werden wir nach Bad Ischl ins Lehar Theater zu einem Ballettabend eingeladen. Charisma (alt.-griechisch: "göttliche Gnade"), da fällt einem so Gegensätzliches ein wie Papst Johannes Paul II oder Hitler, die Kult-Sängerin Madonna oder der Sektenführer James Warren Jones, der vor 28 Jahren 914 seiner Jünger zum gemeinsamen Massenselbstmord animierte. Um es vorwegzunehmen, mit dieser für uns Medienfixierte hoch spannenden, wohl auch schockierenden Provokation wurde ich an diesem Abend nicht konfrontiert. Da hilft der Untertitel im Programmheft schon weiter: 4 Tänzer – 4 Temperamente –4 Elemente. Seit der Antike werden diese Tetraden in Zusammenhang gestellt, und man mag ergänzen: die 4 Lebenszeiten, die 4 Jahreszeiten oder die 4 Himmelsrichtungen. Die menschlichen Charaktere haben die Künste seit jeher inspiriert, und auf dessen Deutung - sei es, je nach Geschmack - in der Psychologie oder in der Astrologie wollen wir bis heute nicht verzichten. Vom griechischen Arzt Hippokrates und seinem römischen Berufskollegen Galen kennen wir die Vier: den lebensfroh verspielten, aber auch wagemutigen Sanguiniker (Luft, Frühling, Kindheit, Osten), den hitzigen, egozentrischen und exhibitionistischen Choleriker (Feuer, Sommer, Jugend, Süden), den gedankenvollen, misstrauisch besorgten Melancholiker (Erde, Herbst, Erwachsenenalter, Westen) und den beharrlichen, vom Willen und der Vernunft geprägten Phlegmatiker (Wasser, Winter, Alter, Norden). Damit ist ein ganzer Kosmos für einen abwechslungsreichen Ballettabend aufgespannt. Bereits der barocke Tanzmeister Samuel Rudolf Behr hat das Potential des Sujets in seinem Tanztraktat „L´Art de bien Danser“ (1713) erkannt. Obwohl er uns keine konkrete Choreographie hinterließ, führen uns seine Anregungen zur Reflexion über das Geheimnis unseres Selbst und über die verschiedenen Wechselwirkungen des Ich mit dem Du.

Das Carousel Theater, das wir noch aus dem vergangenen Jahr mit dem Programm "Flames" in guter Erinnerung haben, antwortet mit einem breiten Spektrum an musikalischen und tänzerischen Einfällen auf diese Herausforderung. Walter Baco bereitet mit romantischen Klavier- oder Harfenpassagen, rhythmisch treibendem Pop, an Jan Garbarek erinnernde Saxophonmeditationen und in fremde Welten entführende, flächige elektronische Klangstrukturen, sowie mit nachdenklichen, manchmal träumerisch rätselhaften Texten den klanglichen Boden, auf dem die vier Tänzer agieren. Da werden beispielsweise menschlich dunkle Seiten im stilistisch freien Contemporary ergründet, Situationskomik mit den Mitteln des expressiven Tanztheaters gespielt, oder wir werden mit klassischen Ballettsoli und lyrischen Pas de deux einfach verzaubert. Das kleine Ensemble tanzt auf hohem technischen Niveau. Energetisch hoch konzentriert gelingt es ihm den Spannungsbogen zwischen fulminanten Tempi und ausdrucksstarken Haltepunkten über das gesamte Stück hinweg zu aufrecht zu halten.

In einem so breit angelegten Thema ist man stets in Gefahr sich zu verlieren, und Walter Baco gibt sich scheinbar kaum Mühe dem entgegenzusteuern – wie ein Blick auf seine Anmerkungen zu den einzelnen Stücken im Programmheft meinen lässt. Und doch halten zwei Elemente das Ganze immer wieder zusammen. Formal gesehen ist eine zwar locker gehandhabte, uns aber aus mancher Oper oder Kantate wohl vertraute Struktur erkennbar. Erst werden wir mit einer These in der Art eines getanzten Rezitativs intellektuell konfrontiert. Darauf folgt meist ein meditatives, die Sinne ansprechendes Tanzstück von der abstrakten Schönheit einer Aria. Aufgefangen wird die Sequenz von einem Tutti, einem Chor wenn man so will, in dem sich die verschiedenen Themen und Temperamente begegnen. Das andere, inhaltliche Element, um welches Walter Bacos Arbeit immer wieder kreist, ist eine existenzielle Suche nach den Triebfedern seiner/unserer Existenz, die einen - wenn man sich darauf einlassen mag - immer wieder eng ans Ausgangsthema zurückführt.

Einige Szenen und Chiffren mögen ein konkreteres Bild geben.

Da tritt der Phlegmatiker mit einem Frack auf; als Willenstyp ist er es gewohnt die anderen zu dirigieren und schließlich in Bewegung zu setzen. Doch sobald er seinen Frack oder seine Rolle ablegt, enthüllt sich eine ganz andere Persönlichkeit. Andreas Pernt stellt diese oft unterschätzte Seite des Phlegmatikers mit großer Geste und Überblick dar, weis aber auch mit den Nuancen der Mimik zu spielen und stellt seinen Partnerinnen mit einfühlsamer und kraftvoller Männlichkeit sowohl in den Ensembles als auch in den Pas de deux ein gut balanciertes tänzerisches Gegengewicht entgegen.

Ist der Phlegmatiker ein kühl berechnender Tatmensch, so ist der Choleriker sein hitziger Widerpart, auf den er hier zum Beispiel in einem Tango trifft. Zündstoff, mit dem sich die neu zum Ensemble gestoßene Linda Maria Wagner engagiert auseinandersetzt.

Zweimal im Stück werden die Figuren unter sphärischem Geplätscher und gläsernem Klingeln in ihren Ur- beziehungsweise embryonalen Vorzustand zurückversetzt, wo sie sich als amöbische Urwesen in „slow motion“ durch ihr enges, wässeriges Universum bewegen und zuweilen aufeinander treffen. Bevor sie ihren etwaigen Charakter jedoch ausdifferenzieren können, werden sie wieder weggepustet und verschwinden.

Ein alltägliches, belanglos scheinendes Objekt, ein Stuhl, wird auf der Bühne zum Kristallisationspunkt, an dem sich die verschiedenen Temperamente wie an einem Prisma brechen. Die Art und Weise, wie sich die verschiedenen Tänzer dem Stuhl nähern, ihn besetzen und wieder verlassen, ist spannend und überraschend vielsagend. Wie etwa die Melancholie auf dem Boden heran kriecht, sich depressiv wieder zurückzieht und um die eigenen Wünsche windet, den Stuhl schließlich doch erobert und auf ihm sitzend kurz ihre andere, genialische Seite aufblitzen lässt, bevor sie den Mut wieder verliert und zu Boden gleitet. Diese schon von Aristoteles erwähnte Ambivalenz der Melancholie zeigt sich auch in einem Pas de deux mit dem Phlegmatiker, aus dem sie immer wieder zu entgleiten droht. Die Rolle ist Eva Török auf den Leib geschrieben, ebenso wie das besonders gelungene Kostümmaterial der Modeschule Ebensee, mit dem sie sehr beweglich und gekonnt umzugehen weis und die schwierige Partie überzeugend tanzt.

Wie die Melancholie ist auch der Sanguiniker Gefühlsmensch, doch leichtblütig und sorglos. Da ist Maria Theresia Mühlbauer mit quirligen, auf Spitze getanzten klassischen Soli ganz in ihrem Element, der Luft, die sie mit atemberaubend mächtigen, perfekt gestreckten Jettes erobert. Mit ihrer markanten Bühnenpräsenz gelingt es ihr skurrile Traumszenen genauso zu gestalten wie wunderschöne, elegische Pas de deux.

Um zum Schluss zu kommen: da stellt eine Studie über die Verlagerung des Gleichgewichts in einem „don´t worry, be happy“-Stil das ganze Stück plötzlich auf die Kippe und zerrt uns wieder in die Belanglosigkeit unserer Sport- und Spaßgesellschaft zurück.

Resüme: Der Ausflug mit dem Carousel Theater zu den Facetten des Ich lohnt sich!